Wer hat recht bei Börsenthemen?
Ein bekanntes Zitat von André Kostolany lautet:
An der Börse ist alles möglich, auch das Gegenteil.
Obwohl dieser Satz rein logisch nicht stimmen kann, weist er doch auf ein zutreffendes Phänomen hin: Börse ist aufgrund der vielen Einflussfaktoren und Veränderungen nicht berechenbar. Was immer man dort bisher auch erlebt hat: Mit Überraschungen ist stets zu rechnen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn.
Weil dies so ist, wird man auch immer wieder mit unterschiedlichen Ansichten konfrontiert. Denn nur dort, wo keine klare Eindeutigkeit herrscht, ist Lebensraum für Meinungsunterschiede.
Im folgenden ein paar Beispiele zu Fragen, bei denen man auf unterschiedlichste Ansichten trifft:
- Klassische, immer wieder diskutierte Frage ist: Wird der DAX in der nächsten Zeit steigen oder fallen? Soll man mit einem Einstieg noch warten oder nicht?
- Kann man mit einem Kapital X vom Trading leben?
- Kann man den Markt langfristig schlagen?
- Wieviel Rendite kann ein Investor bzw. Trader im Schnitt erwarten?
- Lohnen sich Smart-Beta ETFs?
- Was ist besser, ausschüttend oder thesaurierend?
- Wieviel Diversifikation ist sinnvoll?
- Welche Aktie, welchen ETF, welches Zertifikat … sollte man kaufen?
- Wann kommt der nächste Crash?
- Wie stark sollte man Schwellenländer im Depot gewichten?
- Was muss man tun, um an der Börse erfolgreich zu sein?
- Sind die Märkte effizient?
Um richtige von falschen Ansichten zuverlässig zu unterscheiden, muss man sich konkret mit den Argumenten auseinandersetzen. Das wollen oder können viele nicht. Da Börse relativ unberechenbar ist, können aber auch selbst diejenigen, die sich mit den Zusammenhängen und Argumenten befassen, viele unrealistische Ansichten nicht endgültig widerlegen.
Genau deshalb können sich auf der Bühne auch Scharlatane und Schaumschläger tummeln, scheinbar gleichberechtigt mit denen, die wirklich was verstehen. Siehe dazu auch meinen Blogbeitrag “Die 3 verlockenden Süßwaren der Börsenbranche”. Es erinnert mich an Astrologie, bei der über Jahrhunderte es die “Pseudoexperten” geschafft haben, hohes Ansehen zu genießen, obwohl aus heutiger wissenschaftlicher Sicht nichts dran war.
Das entscheidende Merkmal, das den “wahren” Börsenexperten auszeichnet: Der Börsenexperte ist sich der Erkenntnisgrenzen bewusst und gibt sie zu. Der Scharlatan versucht anderen sein nicht vorhandenes Wissen zu verkaufen.
Ich empfehle daher jedem Marktteilnehmer, sich nicht blind auf irgendwelche Personen bzw. deren Ansichten zu verlassen. Ein gewisses Mindestverständnis zu den Argumenten und Gegenargumenten bzgl. seiner Anlagestrategie sollte sich jeder erarbeiten, um nicht unnötige Fehler zu machen oder sich übertölpeln zu lassen. Auch dann, wenn selbst alle Argumente zusammen keine eindeutige Klarheit liefern. Kurz: Es macht Sinn, zu wissen was man tut, selbst wenn trotz dieses Wissens nicht wirklich sicher ist, was die Konsequenzen sein werden.
Bei der Börse bewegt man sich in einer Grauzone zwischen Wissen und Raten. Das ist aber immer noch besser als am Roulettetisch blind zu raten. Es geht leider oft nur um argumentativ geschätzte Wahrscheinlichkeit. Könnte man auch Spekulation nennen.
Wenn nun aber zwei konträre Ansichten mit ihren jeweiligen Argumenten gegenübergestellt werden, wie soll man dann entscheiden, welche Argumente besser sind?
Dazu ein paar nützliche Regeln, die nicht nur bei Diskussionen bzgl. Börse angewendet werden können:
- Stärkste Argumente sind rein logische Schlussfolgerungen oder mathematische Herleitungen.
Beispiel:
1) Es steht fest, dass A oder B eine Straftat begangen hat.
2.) Weiter ist sicher, dass B es nicht gewesen war.
Aus 1) und 2) folgt zwingend, dass A eine Straftat begangen hat. - Vor jeder logischen Schlussfolgerung oder Herleitung müssen aber IMMER Annahmen und Modelle vorausgesetzt werden, die ihrerseits als hinreichend sicher gelten sollen. Je schwächer diese Voraussetzungen sind, umso weniger sind sie anzuzweifeln und umso stärker wird die Argumentation. In dem Beispiel oben waren die Punkte 1) und 2) Voraussetzungen.
- Die Qualität der Argumente zählt mehr als die Anzahl der Argumente. Ein einziges starkes Argument kann hunderte schwache Argumente aushebeln.
- Sobald eine Argumentation von einer unsicheren Annahme abhängt, wird sie selbst unsicher. Die Argumentation wird umso belangloser, je mehr unsichere Annahmen getroffen werden.
- Damit ein Argument relevant ist, reicht es nicht, wenn nur “etwas Wahres dran ist”. Mit längeren Argumentationsketten unpräziser Argumente kann man zu komplett falschen Schlussfolgerungen kommen, auch wenn an jedem Argument “etwas Wahres dran ist”. Beim bekannten Märchen “Hans im Glück” wird zum Beispiel mit vielen argumentativ gestützten Tauschgeschäften “gezeigt”, dass nichts zu besitzen besser sei als Gold zu besitzen, wofür Jahre lang gearbeitet wurde.
- Eine “wissenschaftliche Studie” ist nicht automatisch ein gutes Argument oder ein Beweis. Je nach Qualität der Studie und Relevanz für die zu beweisende Ansicht, kann die Studie ein entscheidendes Argument sein oder auch ein ungültiges Argument.
- Ein Zitat einer anderen Person, die darin die zu beweisende Ansicht äußert, ist KEIN Argument. Man kann eine Ansicht nicht dadurch beweisen, dass jemand anderes die Ansicht ebenfalls vertritt. Die Wahrheit ist nicht eine Mehrheitsmeinung.
- Die Person, die die Argumentation führt, spielt für die Bewertung der Argumentation KEINE Rolle, sofern die Ansicht sich nicht auf die Person selbst bezieht. Es ist egal, was der Argumentierende früher oder später geäußert hat. Es spielt keine Rolle, wie erfolgreich der Argumentierende war oder ist oder welche Ausbildung sie hat. Es ist auch unwichtig, welche Motive der Argumentierende haben könnte. Es zählt einzig und allein die Argumentation selbst.
- Allgemeiner gilt: Aussagen, die nicht sachlich oder logisch mit der zu beweisenden oder zu widerlegenden Ansicht in Zusammenhang stehen, sind keine Argumente.
In Diskussionen oder Interviews werden immer wieder rhetorische Tricks verwendet, die bei Zuhörern wie Argumente wirken sollen, aber keine sind. Es würde hier zu weit führen, darauf im Detail einzugehen. Daher nur dieser Link: Die Kunstgriffe der Eristischen Dialektik
Bei vielen Fragen bezüglich Börse lassen sich aber wie gesagt auch keine abgesicherten Ansichten finden. Hier muss man dann Argumente sammeln und subjektiv bewerten, um zu einer sinnvollen Entscheidung zu kommen. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass für die meisten Entscheidungen die persönlichen Bedingungen von hoher Bedeutung sind. Daher können verschiedene Personen, für die verschiedene Bedingungen zutreffen, auch trotz unterschiedlicher Entscheidungen jeweils für sich das Richtige tun. Das bedeutet aber nicht, dass jeder mit jeder Ansicht recht hat.